Prof. Dr. jur. utr. Thomas Fischer,
früherer Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe
Zur aktuellen Debatte um Sterbehilfe
In beinahe keiner Frage rechtspolitischer, aber auch sonstiger Art gehen die Ansichten der großen Mehrheit der Bevölkerung und der politischen Klasse so weit auseinander wie in der Frage der so genannten Sterbehilfe. Das liegt nicht an einem unterschiedlichen entwickelten guten Willen und auch nicht an der Unfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, das für die Richtige zu erkennen, sondern schlicht an einem unterschiedlichen Blickwinkel.
Dem jeweils einzelnen, individuellen Menschen kann und wird es häufig gleichgültig sein, wie die Vielzahl der anderen sich mit dem Sterben einrichtet. Jeder von uns ist für sich allein mit der Angst vor Schmerz, Hoffnungslosigkeit und Tod. Und die große Mehrheit von uns ist auch jeweils für sich davon überzeugt, dass ein – wie auch immer vorgestellter – Ausweg in Form von „Sterbehilfe“ Ausdruck ihrer / seiner eigenen Willensfreiheit und Selbstbestimmung sein müsse.
Anders die „offizielle“ Sicht: Sie blickt auf oder bedenkt die große Masse der jeweils „anderen“. Sie fürchtet „Dammbrüche“ oder die Auflösung gesellschaftlicher Tabus und Grenzen. Sie hat also eher Gefahren als Chancen im Auge.
Das ist einerseits verständlich und nahe liegend, andererseits widersprüchlich.
Denn der einzelne Politiker will für sich selbst selbstverständlich ebenfalls jenes Recht auf Selbstbestimmung, und hält sich selbst auch für fähig dazu, damit verantwortlich umzugehen.
Im Übrigen scheint mir offensichtlich, dass in der Gesellschaft – so wie sie sich entwickelt hat und weiter entwickeln wird – ein hohes Bedürfnis nach einer Enttabuisierung des Todes und die Einbeziehung der letzten Lebensphase in ein selbstbestimmtes Gesamtkonzept besteht. Daher besteht für die Politik, nach meiner Ansicht, weniger die Notwendigkeit einer ständigen „Abwehr“ von Dammbrüchen, als ob man es mit einer Horde aufsässiger Kinder zu tun habe, als die Notwendigkeit einer positiven Gestaltung.
Der 2. Strafsenat hat mit seiner Strebehilfe-Entscheidung aus dem Juni 2010 (2 StR 459/09) die Duskussion um die Sterbehilfe erheblich erweitert, indem er erstmals die unzutreffende, tabuisierende Terminologie aufgegeben hat, die herkömmlich unterscheidet zwischen „passiver“, „indirekter“ und „aktiver“ Sterbehilfe.
Tatsächlich ist die „passive“ nicht nur passiv, sondern umfasste schon immer auch aktives Handeln;
Die indirekte ist in hohem Maße „direkt“; vielmehr ist nur der Vorsatz der Tötung bedingt;
Und die aktive kann selbstverständlich auch passiv sein, also in einem Unterlassen bestehen.
Die ganze Terminologie ist durchsetzt von Tabus, diplomatischen „Sprachregelungen“ und Verschleierungen.
Das gilt im Übrigen auch die die künstliche Gegenüberstellung von Palliativmedizin und Sterbehilfe.
Meine grundsätzliche Position ist, in wenigen Sätzen zusammengefasst:
- Ich bin gegen jede Einschränkung der Sterbehilfe, insb auch gegen ein gesetzliches Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe. Ich bin gegen jede Einschränkung der Straffreiheit von Suizidbeihilfe.
- Ich bin dafür, dass die seit Jahrzehnten andauernde Klage über die zu geringe Förderung palliativmedizinischer Versorgung in Deutschland endlich so ernst genommen wird, wie man es angesichts der bis ins Parlament hinein gepflegten Betroffenheits-Kultur erwarten muss.
- Ich bin schließlich für eine Öffnung zur Zulässigkeit der so genannten aktiven Sterbehilfe durch Änderung oder Ergänzung des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen). Die Abgrenzung der Strafbarkeit aktiven Tötens von der Straffreiheit der Suizidbeihilfe ist willkürlich und benachteiligt gerade die besonders hilflosen Betroffenen. Die „Dammbruch“-Argumente halte ich nicht für stichhaltig. Wirksame prozedurale Regelungen für eine aktive Sterbehilfe durch Ärzte müssen und können eine Nutzung von Sterbehilfe-Angeboten durch an Depression Erkrankte verhindern und die große Zahl von unwürdigen und auch für Dritte hoch belastenden Suiziden verringern.